Passend zum Herbstbeginn :) Die Türklinke quietscht. Ich stosse die Tür auf und mir schlägt ein Schwall kalter Luft entgegen. Zu kalt. Ich stehe in der Tür, ohne mich zu bewegen, vor mir prasseln kleine Regentropfen etwas zu laut auf die Strasse, den Bordstein und das rote Auto meiner Nachbarin. Ich stehe immernoch im Türrahmen. Ich frage mich, warum ich nicht einen Schritt weiter aus der Tür heraus gehe, die Türe schliesse und abschliesse und den Gehsteig betrete. Warum ich nicht einfach tue, was ich vorhabe. Eine gute Frage, auf die ich leider keine Antwort kenne. Auf der Strasse fährt ein Kleintransporter vorbei, zwei Männer, vermutlich von einer Umzugsfirma, sitzen in der Fahrerkabine. Sie reden nicht miteinander. Der Fahrer starrt nur auf die Windschutzscheibe und der Andere auf sein Smartphone. Ich schaue an mir hinab, ich habe die Türschwelle noch immer nicht überschritten. Eine sanfte Brise bläst mir ein paar Regentropfen ins Gesicht. Als ich den Kopf hebe, ist der Transporter verschwunden. Hinter mir erklingen Schritte, die die Treppe herabeilen. Ich gehe über die Schwelle, ich schliesse die Türe, ich schliesse sie nicht ab, es wäre ja sehr unfreundlich einem Nachbarn vor der Nase die Türe abzuschliessen, ich betrete den Gehsteig. Die Strasse ist beinahe menschenleer, nur ein Mann mit einem langen Mantel und einer schwarzen Aktentasche läuft im Stechschritt auf die Strassenkreuzung in einigen Metern Entfernung zu. Er hat keinerlei Ausdruck auf seinem Gesicht, wahrscheinlich ist er innerlich genauso leer wie seine Aktentasche, die fröhlich mit seinem Gang schwingt. Ich umgreife den Henkel meiner Tasche mit meiner rechten Hand, ich trage sie wie immer über der Schulter und eigentlich weiss ich, dass sie mir nie herunterfällt, aber sicher ist sicher. Mit meiner Linken Hand halte ich den Regenschirm, auch wenn es eigentlich nicht stark genug regnet, um einen Regenschirm zu benutzen. Ich sehe, wie der Mann um die Ecke der Kreuzung biegt. Langsam laufe ich ebenfalls in Richtung der Kreuzung. Der Wind leistet Widerstand gegen meinen Schirm. An der Kreuzung sehe ich eine ältere Dame, ich glaube sie hat mich auch gesehen. Ich lächle sie kurz an, sie erwidert es nicht. Ich laufe weiter, ein ganzes Stück weiter. Irgendwann komme ich in der nähe des Parks an. Mein Ziel, die Einkaufspassage meiner Stadt, liegt direkt dahinter. Die Blätter der Bäume, die den Weg des Parks säumen strahlen von unzähligen Orange-, Gelb- und Rottönen. Auf einer Parkbank sitzen zwei junge Frauen, beide halten einen dampfenden Kaffeebecher in der Hand, wobei ich mir eigentlich gar nicht sicher sein kann, ob es wirklich Kaffee ist. Eine Annahme eben, die wie so vieles in unseren Köpfen schon fast vorprogrammiert ist. Gespenstisch. Die beiden unterhalten sich und lachen sich an. Es regnet auf sie hinab und trotzdem lachen sie. Gemeinsam. Ich sehe wieder weg, sie sollen sich ja nicht beobachtet fühlen oder so. Ich wende meinen Blick den Baumkronen zu. Die bunt strahlenden Blätter bilden ein ganzes Dach über dem gepflasterten Weg, den ich entlang gehe. Eigentlich ist der Herbst mit seinen Farben doch wunderschön, weshalb komme ich dann eigentlich nicht öfter aus meiner Wohnung raus? Schon wieder eine gute Frage, auf die ich keine Antwort habe. Die Blätter strahlen. Sie lachen mich an, sie lachen mich aus. Sie lachen, weil ich hier entlanggehe und ihnen unterstelle mich auszulachen. Blätter, die doch gar nicht denken können, die doch nicht einmal Gefühle besitzen. Und doch bin ich mir sicher, dass sie über mich lachen. Mit ihren hellen Farben, die sich so stark von der grauen, trostlosen Umgebung abheben, dass man meint, man könnte sie tatsächlich hören. Ich reisse meinen Blick los, ich laufe weiter. Weg von dem Gelächter, das doch kein Gelächter ist. Weg von dem Gelächter, das man hört und doch nicht hört. In der Einkaufspassage treiben sich trotz des Regens viele Menschen herum. Ein altes Ehepaar spaziert Hand in Hand an den Schaufenstern vorbei. Ein junger Mann mit einem gestreiften Schal steht vor einer Bücherei und starrt eines der Bücher an, als wollte er, durch die Titelseite hindurch, einen Blick auf den Inhalt erhaschen. Vor einem teuer aussehenden Bekleidungsgeschäft steht eine Dame im Pelzmantel, als sie in meine Richtung sieht und mich unauffällig mustert, lächle ich sie kurz an. Die Dame dreht sich abrupt wieder zum Schaufenster, ohne zurückzulächeln. Mein Blick wandert über weitere Passanten, bis er an einem von ihnen hängen bleibt. Ein kleiner Junge steht zwischen zwei grossen Blumenkästen, in denen nichts mehr wächst. Er sieht sich nach etwas um, das sagt mir sein suchender Blick, doch weiss ich leider nicht nach was. Als er in meine Richtung sieht, bleibt sein suchender Blick an mir hängen, dann beginnt er auf mich zuzugehen. Der Wind weht mir meine Haare durch mein Gesicht, als ich wieder sehe, was vor mir geschieht, steht der kleine Junge vor mir und sieht zu mir auf. „Suchst du auch deine Mama?“, er legt den Kopf schief, „Du siehst so aus, als ob du sie suchst.“ Er schaut mich fragend an. „Oder suchst du deinen Papa?“ „Suchst du denn deine Mama?“ Wie dämlich das zu fragen. Natürlich sucht er seine Mutter, wenn er fragt, ob ich meine Mutter auch suche.
Vor meinem inneren Auge blitzen die Blätter mit ihren unzähligen grellen Farben wieder auf. Wie sie lachen, über mich, darüber das ich es noch nicht einmal hinbekomme eine Konversation mit einem Kindergärtner aufzubauen. Es ist lächerlich, allein die Tatsache, dass ich überhaupt noch daran denke.
„Warum denkst du nach? Weisst du nicht mehr, wo du deine Mama zum letzten Mal gesehen hast?“, der Junge steht nach wie vor vor mir, mitten in der Einkaufspassage. Ich schaffe es nicht ein weiteres Wort herauszubringen, nicht eine Silbe, nichts. Alles festgefroren in meinem Kopf. Gerade eben ging es doch noch.
Die Blätter lachen weiter mit ihren warmen Farben, darüber, dass ich, ohne ein Wort zu sagen, ohne jegliche Regung, vor einem Kindergartenkind stehe und nicht weiss was ich sagen und machen soll. Sie lachen sich schlapp, sie lachen sich tot, wenn das in irgendeiner Weise möglich ist.
Der kleine Junge redet weiter: „Du sagst ja gar nichts, kannst du nicht hören, oder sprechen? Nein sprechen kannst du, du hast gerade eben etwas gesagt.“ Ja, eigentlich kann ich sprechen. Warum tue ich es dann nicht? Schon wieder so eine gute Frage. „Ich heisse Eloise.“, Wow, ein ganzer Satz. Ein ganzer Satz, der nichts mit dem Gesprächsthema zutun hat. Abgesehen davon, dass man das hier kaum als Gespräch betiteln kann.
Die Blätter lachen mich aus. Sie lachen sich krank.
„Ich heiss‘ Max.“, sagt der kleine Junge völlig unbeeindruckt von meinem plötzlichen Themenwechsel. „Kannst du mir helfen meine Mama wieder zu finden, Eloise? Dann finden wir bestimmt auch deine.“ Er sieht ziemlich motiviert aus. Seine kleinen Augen sind voller Zuversicht und ganz ohne Sorge. Es wundert mich, wenn ein Kind seine Eltern in einer Menschenmasse verliert, würde ich alles andere als ein motiviertes, zuversichtliches Grinsen im Gesicht des Kindes erwarten. Eher ein schreiendes, weinendes Kind. „Ich hab sie vorher da bei dem Geschäft mit der Frau mit dem grossen Hut hinterm Fenster gesehen. Da waren wir drin. Dann hab ich einen Hund gestreichelt und dann war sie weg.“ „Weg.“, wieder hole ich. „Ja, weg. Hast du sie gesehen?“ „Ich weiss nicht, wie sieht sie den aus?“ Hey, zwei ganze Teilsätze, was für eine Meisterleistung. „Sie hat ganz schöne Haare und eine Tasche, in der immer mein Lieblingskuscheltier schläft, wenn wir nicht zuhause sind, ich darf aber nie gucken, ob es auch gut schläft…“ Er strahlt mit solcher begeisterung, als er das sagt. Es ist schade, dass ich damit nichts anfangen kann.
Die Blätter lachen mich mit ihren grellen Farben aus. Sie verhöhnen mich, sie können sich nicht mehr halten vor Lachen, beinahe fallen sie von den Ästen ab. Ich wusste nicht das Blätter das können. Eigentlich können sie es auch nicht. Oder etwa doch? Ich weiß es nicht, den ich sehe nur eine Wand aus ihnen vor mir. Alle über mich spottend.
„Wo ist den der Laden, indem sie war?“, Schon wieder ein kompletter Satz, der sogar noch ins Gespräch passt, eventuell wird das ja doch noch was mit dieser Konversation. Mir fällt keine bessere Bezeichnung ein. „In dem da!“, er deutete auf das Bekleidungsgeschäft auf der anderen Seite. Es war gut besucht und die Möglichkeit ein Kind in einem so vollen Laden zu verlieren war durchaus hoch. Vielleicht war seine Mutter noch dort drin und suchte ihn. „Was hältst du davon, wenn wir nochmal im Laden nachgucken?“ „Okay“, er greift nach meiner Hand und zieht mich hinter sich auf das Geschäft zu, bevor ich überhaupt eine Chance habe nachzudenken oder zu protestieren. Der Laden ist randvoll. Ich habe keine Ahnung, ob ich irgendeinen Trend um ein bestimmtes Stück, das es nur hier gibt, verpasst habe. Die Schlange an der Kasse ist unberechenbar und von den Umkleiden möchte ich gar nicht erst anfangen. Überall stehen Leute vor Regalen und Ausstellern. Sie begutachten verschiedenste Accessoires, Oberteile, Kleider oder was man sonst in so einem Laden kaufen kann. Sie nehmen keinerlei Notiz voneinander. Man könnte meinen sie haben allesamt Scheuklappen an. „Kannst du sie hier irgendwo sehen?“, Ich schaue zu ihm hinab. Es ist nicht zu laut, doch es gefällt mir trotzdem nicht hier drin, alles ist so eng aufeinander. Passt man nicht auf hat man einen Ellenbogen in der Magengrube und einen Kleiderbügel im Gesicht. Beides nicht sehr verlockend. „Warum guckst du so komisch und traurig? Es ist doch nur ein normaler Laden, da finde ich meine Mama sonst immer wieder. Du wirst deine hier auch finden, da musst du keine Angst haben, das sagt meine Mama auch oft zu mir.“ Es ist offiziell, dieses Kind kann Gedanken lesen. Ich weiss nicht wie, ich weiss nicht warum und ob das überhaupt möglich ist, aber ich bin davon überzeugt. Denn heute glaube ich an vieles, dass wahrscheinlich garnicht möglich ist. Die Blätter schieben sich wieder vor meine Augen, doch bevor sie anfangen können zu lachen beginnt der kleine Junge weiterzusprechen: „Ich hab auch manchmal Angst vor so vielen grossen Erwachsenen, aber die sind nich böse. Die wissen nämlich noch nicht mal das ich hier gerade stehe.“ Er winkt einer Dame, die ihn nicht bemerkt und mit ihren Scheuklappen weiter nach einem Oberteil sucht „Weil sie gar nicht wissen wer ich bin und mich deswegen auch nicht so richtig sehen. Denen ist komplett egal was ich mach und denk, deswegen ist mir auch egal was die machen und denken. Meine Mama sagt immer das man immer so sein und denken muss, wie man sich gern selbst einmal auf der Strasse treffen würde. Das ist ganz einfach.“ Das dieses Kind etwa fünf ist, ist unglaublich. Wenn ich ehrlich bin, habe ich das Gefühl, mit meiner Grossmutter zu reden, die mir Lebensratschläge gibt, so wie Grossmütter eben immer Lebensratschläge geben. „Du musst einfach denken, dass die Leute nett zu dir sind, dann sind sie es auch.“ Woher weiss dieses Kind, was ich denke? „Guck mal die Frau da, der ich gerade gewunken habe. Sie hat jetzt gerade zu uns herüber gelächelt.“ „Stimmt.“ „Siehst du, die sind ganz nett, du willst es nur nicht.“ Die Blätter schieben sich weder vor mein inneres Auge. Sie lachen. Sie lachen einfach nur. Ich weiss nicht worüber und ich weiss nicht warum, vielleicht weil es ein wunderschöner Herbsttag ist und ich heute aus der Wohnung gegangen bin, ohne zu wissen warum. Weil alles so ist wie es ist. Ich lache nicht laut mit, aber ich lache mit den Blättern und tief in mir drin spüre ich das ich genau deshalb heute meine Wohnung verlassen habe. Als ich die Blätter wieder aus meinen Gedanken schiebe und ich die Hand des kleinen Jungen wieder nehmen möchte, damit wir seine Mutter finden können, sehe ich neben mich. Doch dort ist kein kleiner Junge namens Max. Neben mir ist nichts. Ist er irgendwo hingerannt? Hat er etwa seine Mutter gesehen? Ein paar Meter weiter steht eine Frau, die in einem Regal stöbert. „Entschuldigen Sie, gerade eben stand noch ein kleiner Junge neben mir, haben sie gesehen wo er hin ist?“ Die Frau sieht mich irritiert an: „Was für ein Junge?“ Ich sehe mich nochmals um und da ist er. Er strahlt mich an. Er steht auf einmal hinter der Frau, wie auch immer er da hingekommen ist, ohne sie auf sich aufmerksam zu machen. „Ach, da ist er ja.“, sage ich beiläufig zu der Frau, die mich nun noch verwirrter ansieht. Ich gehe auf ihn zu und strecke meine Hand nach ihm aus. Als ich seine Hand in meine nehmen will, greife ich ins leere. Ich hätte schwören können, genau nach seiner Hand gegriffen zu haben. „Komm, wir suchen deine Mutter.“ Ich lächle ihn an. Dann sehe ich wie er mich auch anlächelt, mir winkt und mit einem Mal ist genau dort, wo dieser kleine Junge gerade stand, absolut nichts mehr.
Ich höre die Blätter wieder lachen und doch nicht lachen. Ich weiss nicht, ob sie mich auslachen oder ob sie lachen, weil es so ein schöner Herbsttag ist und draussen inzwischen die Sonne scheint. Ich weiss es nicht, und deswegen ist es mir egal. Es sind eben lachende Blätter.