Hallo, Frage ist im Titel.
Ich bin mit einem Buch fertig geworden und suche nun eine neue Lektüre, die ich am Arbeitsweg lesen kann.
Zuerst dachte ich an das Kapital, aber aufgrund einiger Auszüge sehe ich die dahinterliegenden Ideen und Konzepte zu historisch und aus der Zeit gefallen im Bezug wie sich die Welt und Lebensbedingungen hier in Europa geändert haben.
Daher such ich eher Werke, wo sich die Autoren, losgelöst von den historischen Ansichten, selber Ideen über kommunistische Lösungen und Herangehensweisen machen.
Gibt es sowas? Danke für Tipps.
"Das Kapital" befasst sich nicht mit kommunistischen/linken Konzepten, sondern erklärt den Kapitalismus, sein Wesen, seine ökonomischen Gesetze und Tendenzen. England im 19. Jhd. dient dafür nur zur Illustration.
Von daher ist das immer noch aktuell.
Aber der Kapitalismus hat sich ja auch gewandelt? Ich mein selbst bei aller Kritik am System und der Profiteure haben Kinder und Arbeiter generell bessere Lebensumstände als Anfang/Mitte des 19 Jh.
Ich möchte nur eher vermeiden ein Buch zu lesen und mir dabei dann bei 50% des Inhalts zu denken "ja das ist eh schon überholt".
Aber vllt werde ih es auch lesen nur um einfach den historischen Bezug zu nehmen.
Edit: Vielleicht eine dumme Laienfrage aber wenn das Kapital nur über den Kapitalismus handelt warum dient es dann als Grundlage für kommunistische Ideen? Ich mein nur um über den Kapitalismus zu lesen würde sich ja das Werk über den Wohlstand der Nationen oder von der Wiener Schule eher eignen?
Tatsächlich steht in "Das Kapital" nichts über Kommunismus.
Marx hatte den Standpunkt, dass es ein Fehler ist, den Übeln der Welt bzw. der üblen Welt eine alternative, bessere Welt gegenüberzustellen.
Man kann sich leicht eine Welt ohne Armut und Unterdrückung ausdenken, ohne Hunger und Krieg, aber dann hat man sich halt eine Utopie gebastelt. Das wird auch kaum jemand ablehnen, aber es zugleich als unrealistisch abtun. Außerdem sind alle Utopien mangelhaft, eigentlich Spiegelbilder dieser Welt (ebenso wie Dystopien) und als solche einfach das Wunschkonzert der Gebeutelten, das im falschen Bewusstsein dieser Gesellschaft und den darauf beruhenden Ideologien befangen bleibt. Kurz: Da kommt nichts gutes bei raus.
Etwas anderes ist es sich wissenschaftlich zu erklären, warum es die Übel gibt, also ihre Gründe auszumachen und jene abschaffen zu wollen -
und hier: nachzuweisen, dass der Grund im System liegt, dass das systemnotwendig ist und keine Missstände, die eigentlich gar nicht sein müssten und mit paar Sozialreformen erledigt wären.
(Insofern ist übrigens der Kommunismus bzw. genauer: die Revolution wirklich die Negation des Kapitalismus, weil sich alle grundsätzlichen Bestimmungen des Kommunismus ohnehin vernünftigerweise aus der Kapitalismuskritik ergeben. In der Bestimmung der Gründe der ganzen Scheiße und ihrer Abschaffung, steckt schon im Prinzip drin, was aufgebaut werden müsste.)
Man muss den Kapitalismus verstehen, damit man genau weiß, wogegen man ist, warum und wie man das richtig abschafft. Und auch um andere dagegen aufwiegeln zu können.
Marx war davon überzeugt, dass jemand der den Kapitalismus verstanden hat, den auch ablehnen wird - vor allem wenn er zu den Opfern dieser Produktionsweise gehört.
Die Leute sagen normalerweise nicht "Ja, so ist es, aber ich find's gut.", sondern "Nein, das stimmt alles gar nicht.", also die halten den Kapitalismus für eine Naturnotwendigkeit, wo gar nichts anderes denkbar sei, meinen der Kapitalismus sei eine rationale Produktionsweise zum Zwecke der Bedürfnisbefriedigung, glauben, dass es ungerecht zugehen müsse, wenn sie scheitern, usw. Kurzum: Die Bewohner des Kapitalismus haben lauter parteilich-systemaffirmative Alltagstheorien im Kopf, die verdreht, verkehrt, falsch sind. Auch das ist Thema in "Das Kapital".
Zu deiner Frage mit Adam Smith und den anderen bürgerlichen Ökonomen:
Der Untertitel heißt "Kritik der politischen Ökonomie". Die politische Ökonomie, auch Nationalökonomie genannt, soll kritisiert sein. Marx widerspricht also Adam Smith, David Ricardo, usw. Dementsprechend ist es so, dass wenn Marx recht hat, haben die unrecht - und umgekehrt. Deshalb kann man nicht einfach Smith oder ein VWL-Buch zur Hand nehmen, um den Kapitalismus zu verstehen.
Tatsächlich begründet Marx, wie und warum die bürgerliche Ökonomie auf jenem normalen falschen Alltagsbewusstsein beruht, das ich oben erwähnt hab, und wie die Produktionsverhältnisse selbst so ein falsches Bewusstsein nahelegen, sodass es durch sie bestimmt wird.
Wow danke für die Erklärung. Dann werd ich mir mal doch das Werk besorgen müssen.
Find ich gut, aber bring Geduld mit. Das liest man nicht mal schnell nebenbei.
Mir hat übrigens Sekundärliteratur über das Buch beim Verstehen geholfen und das Lesen mit anderen zusammen bzw. der Austausch mit denen.
Die Sekundärliteratur ist umstritten. Ich fand "Kritik der politischen Ökonomie - Eine Einführung" und "Wie das Marxsche Kapital lesen" (Teil 1 und 2) von Michael Heinrich gut. Und von Peter Decker gibt's einen Vortrag auf YouTube zum ersten Kapitel. Außerdem jetzt auch von 'Gruppen gegen Kapital und Nation' den Kapital-Kommentar, den es kostenlos online gibt. Der ist wahrscheinlich sogar am besten. Aber da streiten sich die Kommunisten.
Und fall's du "Das Kapital" kaufst: Nimm die drei blauen Bände vom Dietz-Verlag. Alle zitieren nach den Seitenzahlen aus den MEW.
Das wird nicht so sein, versprochen. Das Kapital befasst sich mit den grundlegenden Bewegungsgesetzen der kapitalistischen Produktionsweise. Es ist keine Analyse einer bestimmten Epoche des Kapitalismus. Die Gesetzmäßigkeiten gelten heute immer noch genauso wie damals als es geschrieben wurde. Naja, eigentlich noch mehr, weil der Kapitalismus ja weiter entwickelt ist als damals.
Weil die kommunistische Idee nicht einfach eine tolle Vorstellung ist, wie die Welt aussehen könnte, sondern sich notwendig aus der kapitalistischen Produktionsweise ergibt. Den Kapitalismus zu verstehen, heißt letzten Endes die Notwendigkeit des Kommunismus zu verstehen.
Der Kapitalismus und seine Mechanismen haben sich nicht verändert.
Die kapitalistische Welt hat sich fortentwickelt, es gibt ein imperiales Zentrum mit ein paar mehr Arbeiterrechten, dafür eine riesige bettelarme, entrechtete Peripherie um es zu stützen. Du machst ja schon den Fehler, Veränderungen in Deutschland auf die Welt zu beziehen. Das entspricht nicht der Realität. Es herrscht ja noch mehr Leid als im 19 Jhd., da der Kapitalismus alle Winkel des Globus erobert hat.
So gut wie alle Veränderungen, zB auch die "platzende KI Bubble" zu der ein anderer Nutzer vor kurzem etwas gefragt hatte, haben Marx, Engels, Lenin, Luxemburg etc. bereits vor über 100 Jahren vorausgesagt.
Warum konnten sie das wissen? Unter anderem, weil sie mit dem Kapital und seinen Methoden eine genaue Analyse des Kapitalismus vor sich hatten.
Das ist als würde man dir, um Pflanzen zu verstehen, empfehlen, das Standardwerk der botanischen Biologie, das Strasburger Lehrbuch der Pflanzenwissenschaften, zu lesen und du würdest fragen "Warum können wir nicht einfach das Märchen Rapunzel lesen, da geht es doch auch um Salat und Dornenranken?"
Da wird manches vorkommen, das heute überholt ist, weil es eben am damaligen England illustriert wird, aber nicht den Forschungsgegenstand betreffend. Das Wesen des Kapitalismus, seine Gesetze und Tendenzen, sind heute noch die gleichen.
Zum Beispiel war damals Gold die Geldware. Das war eben was anderes als das heutige Geld. Aber man kapiert sehr gut mit der Analyse des Geldes bei der Geldware was heutiges Geld ist.
Du könntest auch "Arbeit und Reichtum" von Margaret Wirth und Wolfgang Möhl lesen.
erstmal gehts im Kapital, um den Kapitalismus und nicht um Kommunismus.
zweitens ist das immer noch aktuell.
wenn du aber unbedingt nicht das kapital lesen willst, dann lies halt die beiden hier (sind auch abseits deiner frage sehr empfehlenswert)
Margaret Wirth Wolfgang Möhl, Gegenstandpunkt Verlag, Arbeit und Reichtum
Gruppen gegen Kapital und Nation, Die Misere hat System: Kapitalismus (kostenloser pdf download)
Wenn es hauptsächlich um die veralteten Darstellungen und Zitate geht kann ich die verkürzte Version vom Manifest Verlag empfehlen. Ich weiß aber nicht, wann das wieder erhältlich ist.
Jack London - The Iron Heel
Zwar auch schon alt, aber wir leben zur Zeit in etwas, was den Beschreibungen im Buch erschreckend nahekommt. Der Hauptcharakter im Buch hält sehr viele Reden und erklärt zu was sich kapitalistische Systeme immer entwickeln werden.
Beispielsweise erklärt er einmal, dass man irgendwann nach Jahrzehnten der Produktionssteigerung anfangen muss Produkte im Meer zu versenken, weil es sonst bald nichts mehr zu produzieren gibt. Eine Lösung, die wir jetzt wirklich durchziehen. Statt einmal gute Schuhe für alle zu produzieren, gibt es Schuhe, die nach einem Jahr kaputt sind und dann in Müllbergen landen.
Erstmal denke ich überhaupt nicht, dass Das Kapital zu historisch und aus der Zeit gefallen ist. Es ist eine Analyse und Kritik der grundlegenden Funktionsweise des Kapitalismus, die sich seit dem 19. Jahrhundert nicht verändert hat. Ich kann aber diese neueren Bücher empfehlen, die moderne Entwicklungen explizit berücksichtigen:
Das Buch Riot Strike Riot befasst sich mit der aktuellen aufständen wie z.b. der BLM bewegung und wie die aus den historischen arbeiter_innen kämpfen entstanden sind
nicht direkt kommunistisch - doch am ende dann doch irgendwie in meiner sicht und glaub könnte passen:
Der Stoff aus dem wir sind - Fabian Scheidler
Goliath’s Curse: The History and Future of Societal Collapse - Luke Kemp