Der Motor wird gestartet. Er zieht das Visier seines Helms herunter und fährt aus der Box. Sein Körper reagiert mit Gänsehaut, als er die Boxengasse entlangfährt, die Blicke von Tausenden Tifosi auf ihn gerichtet. Von diesem Moment hat er geträumt, seit er ein kleiner Junge war, der im Kinderzimmer seine Rennen kommentierte.
Bei seinem ersten Auftritt auf der Formel-1-Bühne sind es andere, die das Geschehen kommentieren: "Antonelli dreht sich!! Mercedes' Hoffnung für die Zukunft fliegt in die Bande ab." Live im Worldfeed eingefangen, verlor Andrea Kimi Antonelli auf dem Weg zur Trainingsbestzeit in der Parabolica die Kontrolle über den Mercedes W15. Nach dem Scheitelpunkt brach ihm das Heck aus, der Wagen drehte sich von der Strecke ins Kiesbett und schlug mit 52G in die Reifenstapel ein. Damit war sein erster Auftritt in der Königsklasse nach zehn Minuten beendet.
Wie die Telemetriedaten zeigten, war bei seinem Mercedes der Grip auf der Hinterachse praktisch nicht mehr vorhanden, als er in die Parabolica einlenkte. Antonelli war auf seinem zweiten Run zu aggressiv vorgegangen. Er fuhr mit 184 km/h durch die zweite Lesmo-Kurve und war damit um 7 km/h schneller als Max Verstappen in dessen bester Runde. Ähnliches Spiel in der Ascari-Schikane: Antonelli fegte mit 190 km/h durch die berühmte Passage, Verstappen bei seinem schnellsten Versuch mit 176 km/h. Eine bewusste Entscheidung des vierfachen Weltmeisters, um die Hinterreifen nicht zu überhitzen. Antonelli fehlte die Erfahrung auf den Pirelli-Reifen - ein typischer Anfängerfehler.
Eigene Netflix-Doku
Für Antonelli wog er noch schwerer, denn er passierte ihm ausgerechnet in seiner Heimat und vor Tausenden italienischen Fans, die sich seit Jahrzehnten nach einem erfolgreichen Formel-1-Piloten sehnen. "Ich musste zum Check ins Krankenhaus, und als ich dort im Bett lag, habe ich nur geweint", erinnert sich Antonelli.
Doch es war nicht der Abflug selbst, der bei Antonelli tiefe Spuren hinterließ. "An diesem Tag habe ich meine Familie und meinen Vater enttäuscht", erzählt Antonelli mit gesenktem Blick in "The Seat". Die 40-minütige Netflix-Doku, in der Toto Wolff in der Liste der Produzenten erscheint, beleuchtet den Aufstieg Antonellis in die Formel 1 als Nachfolger des siebenfachen Rekordchampions Lewis Hamilton bei Mercedes. Mit dem Start der Formel-1-Saison 2025 in Australien endet die Doku, die sportlich wichtigen Fragen bleiben unbeantwortet.
Allein die Tatsache, dass über ihn eine Doku gedreht wurde, verdeutlichte, dass Antonelli kein normaler Rookie war. Gabriel Bortoleto, Isack Hadjar oder sein früherer Formel-2-Teamkollege Oliver Bearman werden an der Performance gegenüber ihrem Teamkollegen gemessen. Das allein ist für einen Rookie in der aktuellen Formel 1 eine Mammutaufgabe.
Antonelli hingegen wird nicht nur an George Russell, einem der Top-Piloten der Königsklasse gemessen, sondern wird - als Wunderkind tituliert - von Beginn an mit Max Verstappen und Lewis Hamilton verglichen. Der eine, ein vierfacher Champion, der als Rookie mit seiner Pace wie ein Komet einschlug und auf sowie abseits der Strecke zu polarisieren wusste. Der andere, ein siebenfacher Champion, der alle Rekorde in der Formel 1 brach. Auf den Punkt gebracht: Zwei Ausnahmekönner, die der Formel 1 auf ihre spezielle Art den Stempel aufgedrückt haben. Und Antonelli?
Mit 13 Jahren wurde der Jungspund aus Bologna in das Nachwuchsprogramm von Mercedes aufgenommen. Nach Erfolgen in der Formel 4 übersprang er die Formel 3 und stieg direkt in die Formel 2 auf. Nach nur einer Saison saß er 2025 im Cockpit eines Top-Teams in der Formel 1. Als er den Vertrag unterschrieb, war er gerade einmal 17 Jahre alt, besaß weder einen Führerschein noch einen Schulabschluss. "Ich war einer der Wenigen, die der Meinung waren, dass Kimi noch ein Entwicklungsjahr bekommen sollte. Aber alle anderen meinten: Er ist etwas Besonderes!", verriet Mercedes-Technikdirektor James Allison.
Auf Kurs und dann kam Imola
In den ersten 14 Rennen der Saison 2025 konnte Antonelli durchaus Ausrufezeichen setzen. Beim Saisonauftakt in Australien zeigte er unter schwierigen Bedingungen Nervenstärke und fuhr von Platz 16 auf den vierten Rang. In Japan führte Antonelli zehn Runden lang das Rennen an und stellte mit 18 Jahren und 224 Tagen den Rekord von Verstappen ein. Im Sprint-Qualifying von Miami folgte der nächste Rekord als jüngster Polesetter. Zugleich stellte er einen neuen Rundenrekord auf dem temporären Kurs rund um das Hard Rock Stadium in Miami Gardens auf. Spätestens nach dem Miami-Wochenende, an dem er in zwei aufeinanderfolgenden Qualifyings George Russell besiegte, war klar, dass der über den nötigen Grundspeed verfügt.
Beim Großen Preis von Kanada stand der 18-Jährige zum ersten Mal auf dem Podium. Kurios: Antonelli zeigte in der ersten Saisonhälfte seine besten Leistungen auf jenen Strecken, die er nicht aus dem Formelsport kannte. Zurück auf vertrautem europäischem Boden lieferte er eine schwankende und teils enttäuschende Performance ab. In einer Medienrunde darauf angesprochen, räumte Antonelli ein, dass er neuen Rennstrecken unvorbelastet begegnet, während er auf bekannten Kursen unnötigen Druck verspürt.
Hinzu kam, dass er ab dem Europa-Auftakt zunehmend mit der Instabilität seines Mercedes kämpfte. Mercedes hatte in Imola eine neue Konfiguration der Hinterradaufhängung im Gepäck. Die Anti-Lift Aufhängung sollte das Heck des W16 bei Lastwechseln stabil in jenem Fenster halten, in dem die Aerodynamik am besten funktioniert.
Doch das Update ließ nicht nur Mercedes ins Mittelfeld abdriften, sondern setzte bei Antonelli eine Negativspirale in Gang. "Mein aggressiver Fahrstil hat das Auto noch unberechenbarer gemacht", sagte Antonelli, der immer mehr das Vertrauen in das Auto verlor. In Ungarn zog Mercedes die Reißleine - die alte Hinterachse kehrte auf den Wagen zurück, die neue Konfiguration ging in den Müll und prompt landete Antonelli wieder in den Top-10. Damit war ein Problem gelöst, ein weiteres muss das Team in der zweiten Saisonhälfte angehen: Antonellis Qualifying-Schwäche.
Im Qualifying muss der Fahrer auf den Punkt abliefern, doch Antonelli braucht zu lange, um sich mit einem leichten Auto und frischen Reifen an das Limit heranzutasten. Mit Ausnahme von Miami fehlten ihm durchschnittlich drei Zehntel auf Russell - ein eklatanter Abstand im eng umkämpften Formel-1-Feld.
Das muss sich ändern, weiß auch Trackside Engineering Director Andrew Shovlin. "Wir liefern uns einen ziemlich engen Kampf um den zweiten Platz in der Konstrukteurswertung. Daher wird der Fokus nun darauf liegen, Kimi weiter vorne in der Startaufstellung zu platzieren, um dann die Position am Sonntag in Punkte zu verwandeln."
Wenn die bisherige Rookie-Saison von Antonelli eines beweist, dann, dass der Weg in der Formel 1 kein geradliniger ist. Dass er die Pace hat, hat er in Miami unter Beweis gestellt. Was ihm fehlt, ist die Konstanz über das Rennwochenende hinweg und die Race Craft. In Rad-an-Rad-Duellen zeigt sich seine fehlende Erfahrung, die nicht zuletzt der Tatsache geschuldet ist, dass er nach nur einer F2-Saison direkt in die Formel 1 kam. Die Launen des W16 führten ab Imola zu weiteren Fehlern und die Angst vor einer Monza-Wiederholung zu übertriebener Vorsicht. Antonelli selbst sprach seinen Crash von 2024 in diversen Medienrunden an und machte damit deutlich, wie sehr sich dieser in seinem Hinterkopf eingeprägt hatte.
Das rief natürlich auch die kritischen Stimmen auf den Plan, die vom "titulierten Wunderkind" mehr erwartet hatten. In der zweiten Saisonhälfte wird es für Antonelli entscheidend sein, den Ballast der hohen Erwartungen als "viel zitiertes Wunderkind" abzulegen und an jedem Rennwochenende vom ersten Training an konstant zu performen.
Dieser Artikel stammt aus der 102. Printausgabe des Motorsport-Magazins. Wer mehr exklusive Interviews und Hintergrundgeschichten wie diese lesen möchte, der kann sich hier ein Abo holen. Ein Ein-Jahres-Abo kann auch zu Weihnachten verschenkt werden – für Kurzentschlossene als Print@Home-Gutschein!


